Warum gehen so viele Befürchtungen mit der digitalen Transformation einher? Schließlich bietet die digitale Transformation viele Chancen für Unternehmen: Effizienzsteigerung, neue Services, die Vernetzung von Daten – und v. a. Chancen für neue Geschäftsmodelle. Auch die Menschen in den Unternehmen profitieren davon.
Doch gleichzeitig bringt die digitale Transformation Unsicherheit:
- Wird mein Arbeitsplatz betroffen sein?
- Werden meine Kompetenzen und meine Expertise zukünftig noch gebraucht?
- Werde ich den Anforderungen der digitalen Welt gewachsen sein (Digital Skills & Digital Mindset)?
Wie können Entscheider in Unternehmen auf diese Ängste und Befürchtungen reagieren?
Der disruptive Charakter der digitalen Transformation
Digitale Transformation bedeutet nicht die Digitalisierung bestehender Prozesse. Vielmehr bedeutet es eine tiefgreifende Umgestaltung, die neue Geschäftsmodelle, neue Strategien, neue Prozesse hervorbringt – und nicht selten auch ein neues Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfordert. Der digitalen Transformation liegen strategische Überlegungen zugrunde und sie ist von disruptiven Veränderungen geprägt.
Angst als natürliche Reaktion auf Unsicherheit
Viele Modelle zum organisationalen Wandel arbeiten mit Veränderungskurven. Und nahezu alle Modelle beschreiben eine Phase der Unordnung, in der Verwirrung, Unsicherheit und Angst auftauchen – das Tal der Tränen. Angst ist also ein normaler Begleiter in Veränderungsprozessen.
Das Wort »Angst« hat seine Wurzeln im Begriff »Enge« und beschreibt damit gut die physiologischen Vorgänge, die im vor Angst starren Menschen ablaufen: Das Blickfeld verengt sich (»Tunnelblick«), die Aufmerksamkeit richtet sich nur noch auf die wahrgenommene Bedrohung, das Umfeld wird weitgehend ausgeblendet. Die Blutgefäße ziehen sich zusammen. Eine leichtere Herzattacke wird als »Angina Pectoris« bezeichnet – die Enge in der Brust.
Auf der Ebene der Organisation kann man ähnliche Phänomene feststellen: Vor einer akuten Bedrohung fällt der Mensch auf ganz archaische Verhaltensmuster zurück: fight, flight, freeze – Kampf, Flucht, Erstarrung. Auf diese Optionen verengt sich das Handlungsspektrum. Unter dem Einfluss einer starken Bedrohung wird die Organisation häufig starr, verliert den Überblick oder ist nur noch im »Firefighter«-Modus: Alle Aufmerksamkeit wird auf das Löschen des nächsten Brandes gelenkt – doch strategische Überlegungen fliegen sprichwörtlich über Bord. So sinnvoll dies kurzfristig ist – so wenig nachhaltig ist dieses Verhalten als Dauerzustand.
Doch wie kann es sein, dass eine – häufig rational gut begründete – Veränderung diese Art von Überreaktion auslöst? Die Antwort darauf liegt tief in der menschlichen Psyche verankert.
Warum haben Mitarbeiter Angst vor Veränderung?
Menschen haben ein neurobiologisch verankertes Grundbedürfnis nach Sicherheit, wie wir in unserer Artikel-Reihe zu »Leadership of the Future« dargestellt haben.
Zugehörigkeit als machtvoller Einflussfaktor
Einer der stärksten Faktoren ist dabei die bewusste oder auch unbewusste Angst, zukünftig nicht mehr zur Gemeinschaft dazuzugehören. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft ist eine der Urängste des Menschen. Wieso ist das so? – Die ethnologische Perspektive hilft beim Verständnis (Auszug aus unserem Buch »Auf dem Pfad des Business-Häuptlings« aus dem Fachverlag Springer Gabler, S. 157):
In vielen traditionellen nomadischen Gesellschaften war der Ausschluss aus der Gemeinschaft gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Außerhalb des durch die Gemeinschaft geschaffenen Schutzraums war das Überleben in einer potenziell feindlichen Umwelt gefährlich. Wilde Tiere, verbrecherisch oder feindlich gesonnene Menschen oder auch die Unbill der Witterung – all das machte das Leben außerhalb der Gemeinschaft schwierig. Der Wechsel eines Ausgestoßenen in eine andere Gemeinschaft war in diesen Gesellschaften in aller Regel nicht möglich. Außerhalb von definierten Kontaktpunkten (z. B. durch Heirat oder Handelsbeziehungen) war der Fremde in anderen Gemeinschaften meist kein gern gesehener Gast.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist in uns Menschen tief verwurzelt, auch wenn es heute in der modernen Zivilisation keineswegs den physischen Tod bedeutet, den Anschluss zum eigenen »Stamm« zu verlieren. Doch auch wenn die Risiken heute subtiler sind, sind sie doch für den Einzelnen als soziales Wesen genauso bedrohlich. Ohne die intensive Anbindung an das Unternehmen sind Karrierepfade häufig steinig, der Informationsfluss versiegt und die Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzte fehlt. Rückkehrende Expatriates berichten häufig davon, dass die erwarteten und oftmals auch versprochenen Karriereschritte in weite Ferne gerückt sind und sie sich wie ein Fremdkörper im heimischen Unternehmen vorkommen.
Angst im Unternehmen
Und auch beim Wandel innerhalb des Unternehmens werden diese Urängste geweckt:
- „Was wird aus mir werden? Sind meine Kompetenzen und Qualitäten zukünftig noch gefragt?“
- „Ist mein Netzwerk aus Kontakten weiterhin wertvoll?“
- „Werde ich einen Platz in der neuen Konstellation haben?“
- „Gehöre ich weiterhin zur Leistungsgemeinschaft im Unternehmen?“
- „Oder werde ich ‚abgeschoben‘? Verliere ich meinen hart erarbeiteten Status oder gar meinen Job?“
Die Stimmen im Kopf reagieren dabei immer auf die wahrgenommene Realität (nicht die objektive) – und häufig ist das Bauchgefühl hierbei wichtiger, als die rationalen Argumente des Kopfes. Das ist allzu menschlich und sollte bei Veränderungssituationen berücksichtigt werden.
Was blockiert diese Angst im Unternehmen und welche Auswirkungen hat sie?
Kreativität, Innovation und Lernen brauchen die volle geistige Kapazität. Jenseits eines bestimmten Levels verhindert Stress zuverlässig, dass wir im Vollbesitz unserer geistigen Potenziale sind. Die Neurowissenschaften zeigen eindeutig: Stress verhindert Kreativität, verhindert neue Ideen, verhindert Partizipation, verhindert das spielerische Erproben von Neuem. Angst verhindert den Spaß an der Arbeit.
Angst kann zur unmittelbaren Handlung aktivieren (z. B. Weglaufen), ist aber kein dauerhafter Motivator. Angst im Unternehmen führt zu sinkender Motivation und geringerem Engagement (Commitment). Umgekehrt können Spaß und Humor aber helfen, mit Stress umzugehen und die Angst (z. B. vor der ungewissen Zukunft) zu mindern. Neuroleadership berücksichtigt die neurobiologischen Grundbedürfnisse der Mitarbeitenden.
Wie kann der Angst entgegengewirkt werden?
Verbundenheit und Humor helfen, die Angst im Unternehmen zu lindern.
Verbundenheit ist der soziale Kit
Vernetzung, Gemeinschaft und offener Austausch wirken positiv und angstlindernd. Eine Bedrohung von außen führt im besten Falle sogar dazu, dass die Gemeinschaft enger zusammensteht, um sich der Herausforderung gemeinsam zu stellen. Nichts stärkt den Zusammenhalt und das Gefühl von Verbundenheit so, wie eine externe Bedrohung. Und nichts schwächt eine Gemeinschaft so sehr, wie interne Zwistigkeiten. Ob eine Gemeinschaft angesichts einer Herausforderung auseinanderfällt oder eben enger zusammenrückt, hängt davon ab, wie in »guten Zeiten« die Kooperation gestaltet wird.
Eine wandlungsfähige Kultur ist immer eine Kultur des Austausches. Die Lust am Austausch von Erkenntnissen, die Lust am Lernen und die Lust am Weitergeben von eigenen Erfahrungen. Hier können Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen.
Humor als Krisen-Kompetenz und Ventil für Spannungen
„Lachen ist die beste Medizin“, weiß der Volksmund. Humor fungiert häufig als Bewältigungsstrategie (sog. »Coping«) nach unerfreulichen Ereignissen und Blitzableiter für emotionale Spannungen, besonders auf der Beziehungsebene. Der Grat zwischen Selbstironie und bitterem Sarkasmus oder Galgenhumor ist jedoch schmal. Die Kunst, sich selbst auf die Schippe nehmen zu können, ist eine äußerst wertvolle Ressource, für sich selbst und auch für andere.
Auch bei polizeilichen und militärischen Spezialeinheiten ist Humor eine gefragte Kompetenz, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Dort wird sehr genau darauf geachtet, ob die Anwärter*innen im Auswahlprozess »sportlich« mit eigenen Fehlern umgehen können. Wer sich selbst fertig macht oder die Stimmung des Teams herunterzieht, hat im Auswahlprozess keine Chance. Gerade unter den lebensgefährlichen Bedingungen des Einsatzes sind Teamplayer gefragt, die das eigene Erleben auch unter Extrembedingungen regulieren können. Und eines der möglichen Mittel, dies zu tun, ist der Humor oder das spielerische Element. Angst und Anspannung im Einsatz sind normal. Und auch Fehler passieren trotz bester Vorbereitung immer wieder. Wer dann keine hohe Frustrationstoleranz hat, gefährdet das gesamte Team und den Einsatz. Humor hilft beim Abbau angestauter Anspannungen.
Was kann ich als Entscheider gegen die Angst im Unternehmen tun?
Auf der individuellen Ebene gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich den eigenen Ängsten zu stellen und deren Energie positiv umzuwandeln. In unserem Buch (s. o.) geben wir im Kapitel „Der Held, der sich seinen Ängsten stellt und damit wahre Größe zeigt“, einige Anregungen. Häufig ist es hilfreich, bewusst eigene Handlungsmuster zu unterbrechen, um wandlungsfähiger zu werden.
Und auch auf der organisationalen Ebene kann man viel tun, um die Angst im Unternehmen in eine positive Kraft zu transformieren. Manche Experten plädieren dafür, sich die Haltung eines »Chief Experimental Officer« anzueignen, der die digitale Transformation nicht als deterministischen »Change« versteht, sondern als tiefgreifenden Wandlungsprozess begreift. Auch die Installation von »Transformation Offices« (obiger Link) kann dies unterstützen. Diese sorgen für Transparenz im Transformationsprozess: für das Management, aber auch für Mitarbeiter, Kunden und andere Stakeholder. Die Aufgaben des Transformation Offices:
- Leitplanken festlegen, in denen sich die Beteiligten bewegen können.
- Projekt- und Kommunikationsbüro
- Gestalter und treibende Kraft im Transformationsprozess
Als Führungskraft und Entscheider im Unternehmen können Sie folgende Fragen reflektieren:
- Was erhöht die Verbundenheit in Ihrem Unternehmen? Was tun Sie »in guten Zeiten« für die Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls? Welche Rituale beleben das Wir-Gefühl in der Mannschaft?
- Wie geht man in Ihrem Unternehmen mit Stress – z. B. auch Angst – um? Wird das Thema offen diskutiert – oder ist es eher ein Tabu?
- Wie würde ein externer Beobachter den Humor auf den Gängen und Arbeitsplätzen beschreiben? Wird viel gelacht und Spaß gemacht während der Arbeit?
Bildquellennachweis: © shutterstock.com | Von Alexander Limbach